phrygisches Reich

phrygisches Reich
phrygisches Reich
 
Vorgeschichte: Anatolien nach dem Untergang des Hethiterreiches
 
Durch den Untergang des hethitischen Großreiches um 1200 v. Chr. ordnete sich die kulturelle und politische Landschaft Anatoliens völlig neu: Im nördlichen Zentralanatolien verschwand die hethitische Sprache ebenso wie die urbane Kultur; hier setzten sich offensichtlich die alten Feinde der Hethiter, die Kaschkäer, politisch und militärisch durch und übten nun ihrerseits Druck auf die Bevölkerungsgruppen des zentral- und südanatolischen Hochlandes aus. Infolge dieses Drucks und anderer Faktoren etablierten sich im Süden und Südosten des alten hethitischen Reiches zahlreiche Kleinstaaten, die die Forschung wegen der von ihnen gepflegten Traditionen mit dem Attribut »neuhethitisch« oder »späthethitisch« zu belegen pflegt. Unter ihnen ragen Karkemisch in Nordsyrien und Milid(ia) bzw. Melid (griechisch Melitene, heute Malatya) im östlichen Zentralanatolien heraus, wo man sich in besonderem Maße auf die hethitischen Vorgänger berief; Reliefs in hethitischem Stil, zuweilen von Steininschriften in hethitischen Hieroglyphen und luwischer Sprache begleitet, aber auch Titel und Königsnamen künden von dem Versuch ihrer Herrscher, sich an die glanzvolle Großreichszeit anzuschließen. Wie die anderen Kleinstaaten, etwa Kue (Kilikien), Gurgum, Kummuch (Kommagene), Tabal, Tuwanuwa und Unki, sahen sich auch Karkemisch und Milidia seit dem späten 10. Jahrhundert v. Chr. immer stärkerem Druck der wieder erstarkten Assyrer ausgesetzt. Als Nachbar und zeitweiliger Verbündeter der späthethitischen Kleinstaaten im Westen und als wichtiger Gegenspieler der assyrischen Könige erscheint in den assyrischen Zeugnissen des späten 8. Jahrhunderts v. Chr. Mita, der Herrscher von Muschku, der üblicherweise mit dem aus der griechisch-lateinischen Literatur bekannten letzten Phrygerkönig Midas identifiziert wird. Allerdings ist diese Gleichsetzung nicht unumstritten, und somit besteht auch über den Zeitpunkt des Endes des Phrygerreiches allgemein keine Einigkeit.
 
 Das Territorium des phrygischen Reiches
 
Das Territorium des phrygischen Reiches umfasste Ende des 8. Jahrhunderts wohl den größten Teil des westlichen Zentralanatolien. Nach Westen wurde es von Lydien, nach Osten und Südosten von den späthethitischen Kleinstaaten, vor allem Tabal und Tuwanuwa, begrenzt. Phrygische Interessen in diesen Gebieten sind durch die Annalen des Assyrerkönigs Sargon II., aber etwa auch durch eine phrygische Inschrift nachgewiesen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Kemerhisar bei Niğde gefunden wurde und den Namen Midas bezeugt. Im Norden fanden sich phrygische Inschriften aus späterer Zeit in Alaca Hüyük, Pazarlɪ und in Boğazkale (Hattusa); hier am Ort der alten Hethiterhauptstadt ist auch die typische phrygische graue Keramik nachgewiesen worden. Nach Süden hin fanden sich bemalte Gefäße der Art, wie sie seit Ende des 8. Jahrhunderts nur in Gordion nachgewiesen sind, etwa in Konya; ein reich ausgestattetes Grab aus dem 7. Jahrhundert, das 1986 in Bayɪndɪr im Elmalɪtal (in Lykien) entdeckt wurde, enthielt Gegenstände mit phrygischen Inschriften sowie Fibeln und Gürtel phrygischen Stils.
 
 Die Überlieferung
 
Was wissen wir nun über die Muschki (Moscher), die Phryger und ihren König Midas, dessen (dynastischer?) Name übrigens schon im 2. Jahrtausend — weit vor der Ankunft der Phryger — in Kleinasien belegt ist? Wie schon die Bezeichnungen Muschku und Phrygien, deren ursprüngliches Verhältnis zueinander unsicher bleiben muss, andeuten, sind unsere literarischen, in Anbetracht des Fehlens einer phrygischen Geschichtsschreibung notwendigerweise nichteinheimischen Quellen gespalten in die assyrische und die griechische sowie römische Überlieferung. Während uns die östliche in besonderem Maße über die Lokalisierung von Muschku und die Beziehungen zwischen den muschkischen Königen und den assyrischen Herrschern Auskunft gibt, unterrichtet uns die griechische vor allem über die ursprüngliche Heimat der Phryger, ihre Geschichte unter (einem?) König Midas, der in dieser Tradition auch zu einer Gestalt der Mythologie wurde, über die Topographie ihres Landes, ihre Kultur und ihre Beziehungen zu den Griechen.
 
Die Phryger selbst stellen sich uns ausschließlich in ihrer archäologischen und epigraphischen, also inschriftlichen Überlieferung vor. Von allen Plätzen ihres Reiches ist dabei der Hauptort Gordion am mittleren Sangarios (heute Sakarya), südwestlich von Ankara, archäologisch am besten bezeugt. Der Name Gordion, ursprünglich Gordieion, bedeutet »Platz des (namengebenden Reichsgründers und Vaters des Midas) Gordios«. Der von deutschen und vor allem amerikanischen Ausgräbern intensiv untersuchte Ruinenhügel mit dem heutigen Namen Yasɪ Hüyük liegt am Ufer des Sakarya, und zwar dort, wo vom Ost-West-Handelsweg eine Route nach Nordwesten abzweigt. Auf einer hethitischen Vorgängersiedlung errichtet, entwickelte sich Gordion ab dem 9. Jahrhundert zu einer ansehnlichen Stadtanlage mit Residenz- und Wirtschaftsbereichen. Viele Gebäude sind nachweislich in einem großen Feuersturm untergegangen, den man zu Recht mit einem Angriff der Kimmerier wohl um oder nach 674 v. Chr. in Verbindung gebracht hat. Auch die gewaltigen Befestigungsanlagen mit der monumentalen Toranlage im Südosten haben die Stadt nicht vor der Zerstörung bewahren können. Innerhalb der Stadtmauern konnte man drei Bezirke ergraben: Der Palastbereich im Nordosten war durch zwei offene Höfe untergliedert, die von Megara (M1—4) flankiert waren, das heißt von Gebäuden vom Typ »Megaron«: ein Rechteckbau mit offener Vorhalle und Haupthalle, in deren Mitte der Herd (Herdaltar) stand. Eine große Terrasse im Südwesten kennzeichnet den zweiten, den Wirtschaftsbezirk; auf ihr stehen sich, durch eine breite Straße getrennt, zwei lange Gebäudekomplexe gegenüber. Für den einen von ihnen (TB 1—8) sind acht Megaroneinheiten mit einer Gesamtlänge von über 100 m nachgewiesen worden. Im Nordwesten, zwischen dem Residenzbereich und der Befestigungsmauer, liegt ein dritter Stadtbezirk, der durch ein vielräumiges Gebäude (G) bestimmt wird. Eine breite Treppenanlage verbindet diesen Teil der Siedlung mit dem der Residenzen und dem der Wirtschaftsgebäude. Das Feuer des 7. Jahrhunderts zerstörte die mit Giebeldächern versehenen Megara an der Südwestseite des Palastbezirks ebenso wie die dahinter stehenden Terrassengebäude. Während die Megara1 und 2 — bei Letzterem war der Hauptraum mit einem Kieselmosaikfußboden ausgelegt — zum Zeitpunkt der Katastrophe nahezu leer geräumt gewesen sein müssen, fanden sich im besonders eindrucksvollen Megaron3 die Reste zahlreicher qualitätvoller Speise- und Vorratsbehältnisse aus Ton, dazu Gefäße aus Bronze, Möbel mit Elfenbeineinlagen, ein stoffbezogenes Liegesofa und fein gewebte Textilien. Vieles spricht dafür, dieses Gebäude dem Herrn von Gordion und phrygischen König zuzuweisen. In den Wirtschaftsgebäuden der Terrasse wurden augenscheinlich die im Palast verzehrten Lebensmittel gelagert und zubereitet sowie Textilien hergestellt.
 
 Der Tote vom Midashügel
 
Die Phryger haben ihre Toten unter großen Erdhügeln (Tumuli) bestattet, von denen bis heute 85 für die Zeit vom 8. Jahrhundert bis in die hellenistische Zeit nachgewiesen sind. Im eindrucksvollsten von ihnen, dem »Midashügel« etwa 2 km nordöstlich von Gordion, fand man einen etwa 65-jährigen Toten mit künstlich verformtem Schädel, in dem manche Gelehrte den Sargongegenspieler Mita sehen wollen. Die besonders exklusiven und reichlichen Grabbeigaben — Möbel, Bronzegefäße, Kessel und Fibeln — sprechen zumindest für die edle Abkunft des Verblichenen und für weit verzweigte Kulturkontakte in seinen Tagen. Mit modernster Technik ist es inzwischen sogar gelungen, das Gesicht des Toten zu rekonstruieren. Aus späterer Zeit (6. Jahrhundert) sind als Zeugnisse phrygischer Kunst neben einer spezifischen Keramik vor allem bemalte Terrakottaplatten und in Felsen gehauene monumentale, von geometrischen Mustern überzogene Fassaden mit Kultbildnische nördlich der heutigen Stadt Afyon auf uns gekommen.
 
Unter den altphrygischen Inschriften des 8. bis 4. Jahrhunderts überliefern einige den Namen Midas; während der »Schwarze Stein von Tyana« dabei als Selbstzeugnis des (eines?) Midas gilt, wird eine Person dieses Namens in einer Weihinschrift des 6. Jahrhunderts an der Felsfassade von Yazɪlɪkaya (Midaion, »Midasstadt«) rückblickend als lawag(e) ta- und wanakt- (»Führer des Aufgebots« bzw. »König«) bezeichnet.
 
 Die Geschichte der Phryger beginnt: Die Einwanderung
 
Der griechische Geschichtsschreiber Herodot überliefert im 5. Jahrhundert v. Chr. die (makedonische) traditionelle Auffassung, nach der die Phryger aus dem südöstlichen Balkanraum nach Kleinasien eingewandert sind (Historien 7,73). Der frühkaiserzeitliche Geograph Strabon weist den Phrygern thrakische Abkunft zu (Geographica 7,3,2). Sprachhistorische Untersuchungen legen nun tatsächlich nahe, dass die Vorfahren der Phryger, genauer: der phrygischsprachigen Bevölkerungsgruppen, mehrere Jahrhunderte vor und wohl auch noch nach 2000 v. Chr. in Nachbarschaft zu den Ahnen der späteren Hellenen und Makedonen im Süden des Balkans gesiedelt haben. In der darauf folgenden Epoche trennten sich danach die Griechen von den Phrygern, wanderten nach Süden in Hellas ein und gründeten dort die »mykenischen Staaten« mit der für sie typischen Ausrichtung auf Palastzentren. Noch später verließen dann auch die Phryger ihre angestammten Siedlungsplätze und wanderten über die Meerengen und das spätere Bithynien schließlich in das anatolische Hochland ein. Auch wenn über die Datierung und die Art und Weise der Einwanderung nach Anatolien (seit dem 12. oder seit dem 9. Jahrhundert?, in mehreren Schüben?) gestritten wird, besteht doch aus sprachlichen wie archäologischen Gründen kein Zweifel daran, dass die Phryger in ihrer neuen Heimat ein fremdes Bevölkerungselement darstellten: So steht ihre — indogermanische — Sprache dem hethitisch-luwischen Sprachzweig auffallend fern, während sie alte Beziehungen zu den Sprachen des Südbalkans, vornehmlich zum Griechischen, aufweist; so hat auch die materielle Kultur der Phryger trotz aller Beeinflussung durch die Kultur der in Anatolien alteingesessenen Völker sich »europäische« Züge bewahrt, wie Teile der Keramikproduktion und die Tumulusbestattungen beweisen. Durch besonders enge kulturelle Beziehungen zu Griechenland ist nach der westlichen Überlieferung die Regierungszeit des (eines?) Phrygerkönigs Midas bestimmt.
 
 Mita von Muschku und die Assyrer
 
Sollten sich hinter den Muschki des 12./11. Jahrhunderts, die nach Ausweis der Annalen des Assyrerkönigs Tiglatpileser I. (1114—1076) schon seit 50 Jahren — von ihrem Zentrum in der Region um Malatya aus — assyrisches Territorium bedrohten, (auch) die Phryger verbergen, dann wäre dies unser erstes Zeugnis für die Ankunft phrygischer Siedler in Zentralanatolien. Historisch wirklich fassbar aber werden sie erst im 8. Jahrhundert, als ihr König Midas (Mita) ein Reich mit dem Zentrum in Gordion begründete, das sich, allerdings nur für relativ kurze Zeit, in seinen kulturellen Kontakten mit dem Westen und seinen zumeist kriegerischen Beziehungen zu den Nachbarn im Osten als Herrschaftsgebiet einer Großmacht erweisen sollte. In den assyrischen Quellen erscheint Mita von Muschku zum ersten Mal für das Jahr 718 im Zusammenhang eines Streits zwischen dem Assyrerkönig Sargon II. (721—705) und einem Fürsten von Tabal. 717 war er immerhin so einflussreich, dass er Fürst Pisiri von Karkemisch zu einer — erfolglosen — Revolte gegen Assyrien überreden konnte. Für die folgenden Jahre bis 710/709 berichten die assyrischen Annalen immer wieder von Verschwörungen von Herrschern der späthethitischen Kleinstaaten gegen ihren Oberherrn Sargon, Rebellionen, bei denen die besondere Rolle des Mita überdeutlich wird. Neben dem Herrscher von Urartu erwies sich der Phrygerkönig damit als wichtigster außenpolitischer Gegenspieler der Assyrer. Umso erfreuter dürfte Sargon gewesen sein, als ihn 710/709, während seines Feldzuges gegen den Chaldäerführer Marduk-apla-iddina (Merodachbaladan), Informationen erreichten, nach denen sein Statthalter in Kilikien Mita besiegt hatte. In seinen Annalen berichtet der Assyrerkönig davon, Mita habe ihm einen Boten gesandt und Unterwerfung und Tribut angeboten. Stolz vermeldet Sargon, der Muschkäer habe sich zuvor niemals einem Herrscher Assyriens beugen müssen.
 
Ein fast vollständig erhaltener Brief Sargons aus Nimrud, im selben Jahr geschrieben, bestätigt den Sachverhalt; es handelt sich bei diesem Schreiben um eine ausführliche Antwort Sargons an seinen Statthalter in Kilikien, dessen vorangegangene Briefe im Text zusammengefasst werden: Danach hatte der Herrscher Urik(ki) von Kue in feindlicher Absicht eine Gesandtschaft nach Urartu geschickt, die jedoch von Mita abgefangen und an den assyrischen Statthalter in Kilikien, das heißt den Briefpartner Sargons, ausgeliefert worden war. Mit dem Frontenwechsel des Phrygerkönigs, weg von den früheren Verbündeten in Kappadokien, Kilikien und Urartu hin zum ehemaligen Gegner Assyrien, scheiterten die Pläne Urartus, im Westen Terrain zu gewinnen. Aber auch dem Sieger von 709, Sargon, war kein dauerhafter Erfolg beschieden: Vier Jahre später fand der Assyrerkönig auf einem Feldzug in Tabal den Tod. Sein neuer Verbündeter Mita von Muschku taucht in den assyrischen Texten nicht mehr auf, wohl aber ein Mann gleichen Namens in einer Orakelanfrage des Assyrerkönigs Asarhaddon aus dem Jahre 674, der als »Herr der Stadt« (wegen drohender Gefahren?) seine Boten an befreundete Nachbarn ausschickt. Auf eben diesen (zweiten?) Mita scheint sich auch ein weiterer ähnlicher Text zu beziehen, der wohl einige Jahre früher entstand und beweist, dass sich damals ein König von Muschku zusammen mit Kimmeriern wieder in Auseinandersetzung mit Assyrien befand.
 
 Der reiche König mit den Eselsohren
 
Im Gegensatz zur vergleichsweise bescheidenen Bezeugung phrygischer Herrscher in der östlichen Überlieferung fließen die Informationen über Midas in der griechisch-römischen Tradition reichlich. Dabei gilt es zunächst, den Midas der Geschichtsschreibung von dem des Mythos zu scheiden; vom »historischen« König berichtet Herodot, er sei der erste Nichtgrieche gewesen, der dem Apoll von Delphi ein Weihgeschenk, nämlich seinen Thron, habe zukommen lassen (Historien 1, 14), nach dem griechischen Autor Pollux (Onomastikon 9, 83) soll er mit einer Tochter des Königs Agamemnon von Kyme an der Westküste Kleinasiens verheiratet gewesen sein. Wichtiger noch ist der Hinweis des Geographen Strabon (1, 3, 21), Midas habe bei einem vernichtenden Angriff der Kimmerier den Tod gesucht. Während man des Geographen zusätzliche Notiz, der König habe zum Zwecke des Selbstmordes Stierblut getrunken, allseits zu Recht als dramatische Ausschmückung des Schicksalsschlages, nicht als historisches Faktum anzusehen bereit ist, wird um die Identifizierung des Toten und damit auch um den Zeitpunkt der Katastrophe heftig gerungen: Sehen die meisten Gelehrten bis heute im Midas der griechischen Überlieferung den sargonzeitlichen Mita, möchten andere ihn — wohl zu Recht — mit dessen Namensvetter aus den Tagen Asarhaddons in Verbindung bringen, seinen Selbstmord beim Angriff von Kimmeriern, die Zerstörung Gordions und den Untergang des phrygischen Reiches damit nicht um die Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert, sondern in die Zeit nach 674 v. Chr. datieren. Noch schwerer fällt die Benennung des Vorbildes für den mythischen Midas. Diesem Charakter, dessen Reichtum Griechen und Römern sprichwörtlich war, schrieb man in der Antike tragische wie komische Züge zu: So soll er etwa den alten Silen gefangen haben, um von ihm die Kennzeichen größten menschlichen Glücks in Erfahrung zu bringen; in anderen Texten ist davon die Rede, Midas habe von Dionysos die Gabe erbeten, alles Berührte in Gold verwandeln zu können. Als ihm diese Auszeichnung bald zur Last wurde, soll er Befreiung durch ein Bad im lydischen Fluss Paktolos erlangt haben, der seitdem Gold führte. In Ovids »Metamorphosen«, in denen sich die bekannteste antike Zusammenfassung der Midasgeschichten findet, wird zusätzlich berichtet, Midas sei für ein »falsches« Urteil im musikalischen Wettstreit zwischen Apoll und Pan vom Zeussohn mit Eselsohren bestraft worden. Steht damit auch fest, dass sich im Mythos Erinnerungen an einen reichen und mächtigen historischen Midas mit märchenhaften Motiven verbunden haben müssen, so bleibt doch offen, um welchen Phrygerkönig es sich bei diesem »historischen« Vorbild handelt. Vielleicht sind sagenhafte Informationen über mehrere Persönlichkeiten miteinander verschmolzen worden. Zu erwähnen bliebe noch, dass Midas — neben seinem Vater Gordios — auch als Gründer des Phrygerreiches und von Städten wie Midaion (»Midasstadt«), Gordion, Ankyra (Ankara), Pessinus und Kelainai erscheint; Vater und Sohn wird zudem die Weihung des Kriegswagens im Burgtempel von Gordion zugeschrieben, dessen Deichsel und Joch durch einen kunstvoll geknüpften Bastknoten (den »gordischen Knoten«) verbunden gewesen sein sollen; der Überlieferung zufolge war Alexander der Große der Erste, dem das Lösen des Knotens gelang und der so die durch einen Orakelspruch zugesagte Herrschaft über »Asien« antreten konnte.
 
 Wirtschaft und Kultur der Phryger
 
Wie in allen antiken Gemeinwesen war auch in Phrygien die Landwirtschaft Quelle des Ein- und Auskommens seiner Bewohner. Das hier geerntete Getreide wurde dabei nicht nur in Form von Brot und Brei verzehrt, sondern war auch Grundstoff der allseits gerühmten phrygischen Bierbraukunst. Archäologisch nachgewiesen und von griechischen Zeitgenossen erwähnt ist auch die Viehwirtschaft: Schafe und Ziegen versorgten ihre Besitzer mit Milch und Fleisch bzw. mit Wolle für die Textilherstellung, besonders trainierte Pferde — neben Stieren auffällig oft in der Kunst bezeugt — spielten eine besondere Rolle in der phrygischen Kriegführung. Die ergrabenen Überreste des midaszeitlichen Gordion bezeugen zudem, zumindest im Palastbereich, eine vielfältige Kunsthandwerkstradition: Töpfer, Bronze- und Eisenschmiede, Möbelschreiner und Textilhandwerker verfertigten, durch einheimische Traditionen bestimmt und durch fremde Einflüsse angeregt, hochwertige Waren, die durch ihre ornamentalen Muster als »typisch phrygisch« ausgewiesen sind. Unter ihnen ragen die verschiedenen Gattungen bemalter Keramik, die Bronzefibeln und die Elfenbeineinlegearbeiten in der Möbelherstellung heraus. Es verwundert nun nicht mehr, dass Herodot über den dem Apoll von Delphi geweihten Thron des Midas berichtet, er sei »sehenswert« gewesen.
 
Die mehr als hundert altphrygischen Inschriften des 8.bis 4. Jahrhunderts, vor allem auf Stein und Ton in einer dem Griechischen verwandten Alphabetschrift angebracht, beweisen wie auch die Objekte der Kunst, dass die Phryger über intensive Kontakte nach Westen verfügten. Diese Texte sind allerdings nicht zahlreich und vielfältig genug, um Umfang und Art des Schriftgebrauchs, vor allem jenseits der administrativen Nutzung von Schrift zur Auflistung und Registrierung von Waren, zu klären.
 
Über die religiösen Anschauungen der Phryger sind wir gleichfalls nur höchst unzureichend unterrichtet. Immerhin wissen wir, dass im Mittelpunkt kultischer Verehrung eine ursprünglich einheimische Muttergottheit stand, die in den Inschriften als matar erscheint und zuweilen noch mit dem Attribut kubileya (griechisch Kybele) belegt wird. In der phrygischen Kunst des Kernlandes finden wir als ihren geläufigen Typus die zumeist in einem Naiskos (Kultraum) aufrecht stehende, frontal ausgerichtete Göttin mit einem über den Kopf gezogenen und über der linken Hüfte eingegürteten Mantelschleier, einem bis auf den Boden hinabreichenden Faltengewand sowie den Attributen Schale und Greifvogel vor der Brust. Kybele ist übrigens die einzige Gottheit, die für die Frühzeit ikonographisch zu fassen ist, ihr Kult scheint demnach in Phrygien von herausragender Bedeutung gewesen zu sein. Inschriften und Weihgaben bezeugen dabei ihre Verehrung durch Regenten und Volk gleichermaßen. Im 7. Jahrhundert trat die westphrygische Variante der Göttin — mit dem Löwen als Attributtier — ihren Siegeszug in die griechische Welt an. Keine frühen phrygischen Belege gibt es für die später so berühmte Organisation der Eunuchenpriester (der Kybele) von Pessinus und den mit diesem Ort und Kult verbundenen Attismythos; in Gestalt eines Meteorsteins wurde die hellenistische Variante der »Großen Mutter« (Magna Mater) von hier aus im Jahr 204 v. Chr. nach Rom überführt, von wo aus dann ihr (Mysterien-)Kult mit seinen orgiastischen Zügen das ganze Imperium erreichte.
 
Prof. Dr. Josef Wiesehöfer
 
 
Akurgal, Ekrem: Die Kunst Anatoliens von Homer bis Alexander. Berlin 1961.
 
Der alte Orient. Geschichte und Kultur des alten Vorderasien, Beiträge von Barthel Hrouda u. a. München 1991.
 Brixhe, Claude / Lejeune, Michel: Corpus des inscriptions paléo-phrygiennes. 2 Bände. Paris 1984.
 
Civilizations of the Ancient Near East, herausgegeben von Jack M. Sasson. 4 Bände. New York u. a. 1995.
 Diodoros: Griechische Weltgeschichte. Buch I -X. Eingeleitet und kommentiert von Thomas Nothers. 2 Bände Stuttgart 1992-93.
 
Fischer-Weltgeschichte, Band 4: Die altorientalischen Reiche, Teil 3: Die erste Hälfte des 1. Jahrtausends, herausgegeben von Elena Cassin u. a. Frankfurt am Main 1993.
 
From Athens to Gordion. The papers of a Memorial Symposium for Rodney S. Young, held at the University Museum, the 3. of May, 1975, herausgegeben von Keith De Vries. Philadelphia, Pa. 1980.
 
The Gordion Excavations final reports, herausgegeben von E. L. Kohler. Band 1: Young, Rodney S.: Three great early tumuli. Philadelphia, Pa. 1981.
 Hanfmann, George M.: From Croesus to Constantine. The cities of Western Asia Minor and their arts in Greek and Roman times. Ann Arbor, Mich. 1975.
 Haspels, Caroline H.: The highlands of Phrygia. Sites and monuments. 2 Bände. Princeton, N. J. 1971.
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 Neumann, Günter: Phrygisch und Griechisch. Wien 1988.
 Prayon, Friedhelm: Phrygische Plastik. Die früheisenzeitliche Bildkunst Zentral-Anatoliens und ihre Beziehungen zu Griechenland und zum Alten Orient. Tübingen 1987.
 
State archives of Assyria, veröffentlicht vom Neo-Assyrian Text Corpus Project of the Academy of Finland u. a. Band 1: Letters from Assyria and the West, herausgegeben von Simo Parpola. Helsinki 1987.
 
State archives of Assyria, veröffentlicht vom Neo-Assyrian Text Corpus Project of the Academy of Finland u. a.Band 4: Queries to the Sungod, herausgegeben von Ivan Starr. Helsinki 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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